ZU VERSCHENKEN / ZEITREISE IN DIE 50ER
- Anastasia Langner
- 1. Apr.
- 3 Min. Lesezeit
Es ist Herbst, die Wolken hängen trüb am Himmel und treiben alle, die nicht gleich nass werden wollen, in ihre Häuser. Auch wir beeilen uns – nur auf den Stufen eines Hauseingangs fallen mir zwei dicke, schwarze, gebundene Bücher auf. "ZU VERSCHENKEN." Nicht dass sie auch noch nass werden, denke ich, und packe sie ein.
Ich kannte dieses Magazin von früher nicht, aber es sind zwei Sammelausgaben von Baukunst und Werkform aus den Jahren 1957 und 1958. Mein Vater hat mir beigebracht, dass in der Geschichte oft Antworten liegen. Außerdem riechen und fühlen sie sich unglaublich an. Als ich dieses Jahr ein bisschen Zeit hatte, kam ich endlich dazu, sie zu studieren.

"Architektur ist ein Selbstbildnis der Zeit" – ich weiß nicht, von wem dieses Zitat stammt, aber es stimmt. Das Unfassbare dabei ist, dass in Deutschland oft „innoviert“ wird (haha, oft eher re-noviert), ohne der jeweiligen Zeit ihre verdiente Würde zu lassen. In der Architekturzeitschrift werden die Trends, die Zeitepoche und die Objekte der 50er gefeiert – Dinge, die heute oft als „veraltet“ abgestempelt und schnell durch Neues ersetzt werden sollen. Dabei könnten wir von unseren Nachbarländern lernen, wie man liebevoll mit der Vergangenheit umgeht.
Ich musste mir die Geschichte dieses Landes in Museen und Dokus nachholen, aber in den 50er-Jahren erlebte das denkende Deutschland eine einzigartige Zeit: den Wiederaufbau. Gleichzeitig mit dem Wirtschaftswunder trauerte die Gesellschaft um Talente, die durch das NS-Regime vertrieben oder im Krieg verloren wurden. Der Avantgardismus der Moderne trat hervor und zeigte sich in Kunst und Design.
Ich gehe gerne ins Detail, um mit euch, liebe Community, meine Einblicke zu teilen 😍! Das Erste, was mir auffiel, waren die coolen Anzeigefelder! Auf hochwertigerem Papier gedruckt werben Hersteller wie Osram, Geberit oder Miele für ihre damals bahnbrechenden Produkte. Rapidografen – die ich selbst im Studium verwendet habe! Der PVC-Bodenbelag Mipolam wird mit seinen einzigartigen Qualitäten gefeiert! Einige meiner Kund*innen möchten ihn heute ersetzen lassen, dabei sind aktuelle zirkuläre Optiken gar nicht so weit entfernt.
Materialien wie Kunststoff und besonders Glas erleben ihre goldene Zeit in der Architektur: gebogenes Glas, verzerrungsfreie Glasflächen, tragende Glasblöcke, Isolierglas, faltbares Glas – korrosionsfrei und blickdurchlässig, dienen sie vielen Projekten als Mittel für mehr Licht und Transparenz. Dabei wird bei Materialien überhaupt nicht über Beschaffenheit gesprochen. Herkunft, Produktion und Zerfall der Baustoffe sind kein Thema – man lebt und baut in einer ewigen Blase des wohlhabenden Jetzt.
Am meisten beeindruckt haben mich einzelne Rubriken über Bauprojekte. So konnte man das Wettbewerbsverfahren über die Phoenix-Rheinrohr AG Verwaltung (das Dreischeibenhaus) in Düsseldorf mitverfolgen 😍! 22 Architekten reichten Entwürfe ein, die beurteilt wurden. Im Rahmen des Wettbewerbs wurde sogar Design Thinking angewendet: Es wurde festgelegt, dass sich der endgültige Entwurf durch Iterationen über Funktion und Nutzung entwickeln sollte. Auch damalige Erkenntnisse zum Bürohochbau waren sehr spannend!
Eine eigene Magazinausgabe widmete Baukunst und Werkform dem Wiederaufbau Kölns – mit entsprechender Stimmung, Liedern und Witzen, mit Zügen über zerstörte Brücken und natürlich neuen Anforderungen an die verschonte Bausubstanz. Das Magazin führt auf eine Exkursion, wie die Stadt neu geplant wurde:„Morgen wird sie (die Stadt) eine andere Hand gestalten, und das vollzieht sich so von Generation zu Generation.“
Objekte wie Theaterneubau, Gürzenich, Kaufhaus, aber auch Lösungen für die enge Stadtplanung bis hin zu Wohnhäusern – und meine langjährige Lieblingsstelle, die „Wegschnapp“ am Rheinufer – all das trägt die Handschrift der Wiederaufbauzeit. Diese Werke erzählen Geschichten und verdienen es, gewürdigt zu werden.
Diese Bände behalte ich tief in meiner Bibliothek – das Universum wollte, dass ich sie finde. Und wir lernen, der Vergangenheit mit Würde und nicht mit Angst oder Scham zu begegnen – und nehmen unsere Learnings mit. Nie wieder ist jetzt, und die Zukunft ist auch jetzt, Leute. Man kann nichts wegdenken und auch nichts zu 100 % planen – es gibt, was es gibt, und damit müssen wir umgehen. Mutig, innovativ, aber nicht ignorant – aus dem Herzen, und weniger aus dem Kopf oder der Excel-Tabelle. So fühlt es sich an. Und wenn es sich für euch auch so anfühlt – dann seid ihr nicht allein ❤️.
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